Kolibris (links) starben einst in Europa aus, obwohl sie weitaus perfekter an den Blütenbesuch angepasst zu sein scheinen als Nektarvögel (rechts), ihre heutigen ökologischen Gegenstücke in der Alten Welt. Die Evolution beider Vogeltypen erschließt sich offenbar weder allein aus ihren gegenwärtigen ökologischen Nischen noch aus ihrer ursprünglich unterschiedlicheren Gestalt, sondern ist nur bei Betrachtung ihrer gesamten Evolutionsgeschichte aus dem Zusammenwirken von Kontinentaldrift, Klimageschichte, Stammesgeschichte und ihrer historischen Ökologie — neben einigen anderen sicher noch unbekannten Faktoren — zu erklären.


Veiko Krauß | Fragen und Antworten zur Evolutionsbiologie 2017


Nichts ist endgültig: Das Fehlen ultimater Ursachen

„Ultimate factors, Ultimatfaktoren, die evolutionären Ursachen für das Vorhandensein eines (z.B. morphologischen, physiologischen oder Verhaltens-) Merkmals, oder einfach: dessen Anpassungswert (Adaptationswert). Im Gegensatz dazu sind proximate factors oder Proximatfaktoren unmittelbar im Organismus wirksame Mechanismen, die zur Auslösung eines Verhaltens, eines physiologischen Prozesses oder zur Ausbildung eines Körpermerkmals führen.“ [1]

Während jedes Merkmal von Organismen natürlich evolutionäre Ursachen hat, sind diese weder identisch mit einem angenommenen Anpassungswert von Merkmalen noch letztgültige, grundlegende Ursachen für jene Merkmale. Ultimatfaktoren sind daher ein philosophisch falscher Begriff für eine biologisch falsche Beschreibung. Das wird im Folgenden begründet.

Philosophisch falsch ist der Begriff, weil es so etwas wie finale, endgültige oder letztendliche Ursachen — all diese Adjektive sind Übersetzungsvarianten des englischen Begriffs „ultimate“ — in der Natur nicht geben kann. Jede Wirkung hat Ursachen, die wiederum Wirkungen anderer Ursachen sind. Ursachen einer evolutionären Veränderung können z.B. veränderte Umweltbedingungen sein, welche wiederum Folgen der Kontinentaldrift, der Sonnenaktivität, einer verstärkten Sauerstoffproduktion durch Pflanzen und vieler anderer Einflüsse sein können. Diese Ursachen von Umweltveränderungen sind selbstverständlich wiederum Folgen anderer Ursachen. Eine tatsächlich ultimate, d.h. finale, endgültige oder letztendliche Ursache materieller Ereignisse könnte nur ein Gott sein („Am Anfang war das Wort.“). Die Anerkennung einer solchen ultimaten Ursache würde jedoch den Erklärungsansatz der Naturwissenschaften unterlaufen.

Biologisch falsch ist das oben angeführte Zitat, weil evolutionäre Ursachen nicht identisch mit dem Anpassungswert eines Merkmals sein können. An jeder evolutionären Veränderung sind außer der Selektion noch andere Evolutionsfaktoren wie Mutation, Drift, Draft oder Rekombination beteiligt (siehe dazu Wie wirken Mutation, Drift und Selektion bei der Evolution neuer Merkmale zusammen? (2015)). Häufig wird argumentiert, das evolutionäre Ursachen nur eingeschränkt einer experimentellen Überprüfung zugänglich seien, weil sie den Nutzen des Merkmals für den Organismus beträfen. Tatsächlich aber betreffen sie die Entstehung des Merkmals in der Evolution, und es ist heute durchaus möglich, die Rolle der verschiedenen Evolutionsfaktoren bei der Entstehung des Merkmals empirisch abzuschätzen, was nicht nur durch Beobachtung und Modellierung, sondern auch durch Experimente erfolgt.

Proximate und ultimate Ursachen werden häufig auch mit verschiedenen Fragetypen verbunden. Ein solcher Ansatz geht davon aus, dass proximate Ursachen ("Wie ist dieses Merkmal entstanden?", Frage nach dem Entstehungsprozess) unabhängig von ultimaten Ursachen ("Warum ist dieses Merkmal entstanden?", Frage nach dem Nutzen) untersuchbar wären. Das ist jedoch ebenfalls falsch. Aus der Antwort darauf, wie das Merkmal entstanden ist, ergibt sich, warum es entstanden ist, allerdings nicht als Nutzen des Merkmals, sondern als Begründung für seine Entstehung. Eine umfassende Darstellung der frustrierenden Folgen einer isolierten Betrachtung des Nutzens eines Merkmals als Argument für seine Entstehung gibt Richard C. Francis in seinen Buch über die soziobiologische Verhaltensanalyse bei Wirbeltieren [2].

[1] Lexikon der Biologie. Spektrum-Verlag 1999.

[2] Francis RC. Why Men Won't Ask for Directions. The Seductions of Sociobiology. Princeton University Press 2004.


Warum so polemisch?

Gut dargestellte Wissenschaft sollte es ermöglichen, die Welt besser zu verstehen. Dazu gehört nicht nur die Erklärung mehr oder weniger neuer Erkenntnisse, sondern auch die Kritik an erwiesenermaßen falschen Vorstellungen. Friedliche Koexistenz sich logisch widersprechender Aussagen kann es — in der Wissenschaft — nicht geben. Anhand anderer Meinungen kann man wirkungsvoller erklären, dass Mutationen, Drift und Selektion (sowie gegebenenfalls Rekombination) nur im Zusammenwirken neue, vorteilhafte Merkmale entstehen lassen können. Eine alternative, nicht selten vertretene Meinung besteht darin, Anpassungen der Selektion zuzuschreiben, genetische Drift als bei kleinen Populationen vorkommend nur nebenbei zu erwähnen und Mutationen zwar als Grundlage genetischer Variation einzuführen, ohne sich jedoch über Gestalt, Häufigkeit und wahrscheinliche Wirkung von Mutationen auf den betroffenen Organismus auszulassen.

Ein anderes Problem sind Begriffe, welche ohne klare Abgrenzung zu ähnlichen, aber verschiedenen Begriffen beinahe beliebig gedeutet werden können und damit jede Verbindlichkeit verlieren. Dazu zählen die in meinen Buch verwendeten Schlagwörter Epigenetik, Gen, Phänotyp, Selektion und auch die Evolution selbst. Solche Begriffe sind nichts anderes als Konzepte, Vorstellungen bzw. Modelle zur Beschreibung der Natur. Werden sie zu diffus definiert oder ins Ungewisse umgedeutet, so kann ihre weitere Verwendung keine wissenschaftliche Bedeutung mehr haben. Wenn Wissenschaftler neue Phänomene beschreiben wollen, dann haben sie normalerweise kein Problem damit, auch neue Begriffe dafür einzuführen. Wenn aber stattdessen ein existierender Begriff umdefiniert wird, ist allen Anschein nach eine Übertragung der Bedeutung beabsichtigt. Ich erlaube mir deshalb, diese Bedeutungen wörtlich zu nehmen.

Leider geht insbesondere der populäre Zoologe Richard Dawkins unachtsam mit manchen Begriffen um, welche in seinen Büchern einerseits eine zentrale Rolle spielen, andererseits dort aber völlig neu gedeutet werden. Schon seine Buchtitel "Das egoistische Gen" und "Der erweiterte Phänotyp" deuten diese Begriffsumwidmung an. Gerade wegen Dawkins' außergewöhnlicher Popularität sollte das Biologen nicht gleichgültig lassen, denn obwohl seine Sichtweisen der Evolution (z.B. die generelle Verlagerung der Ebene der Selektion auf Gene) originell waren und seit Jahrzehnten gut bekannt sind, haben sie nicht zu neuen Erkenntnissen beigetragen, sondern im Gegenteil durch ihre Reduzierung der Evolution auf Anpassungsvorgänge eher den Blick auf typische Abläufe der Evolution verstellt.

Ein drittes Argument für eine offensive Schreibweise besteht in einer oft unkritischen Anwendung von Begriffen aus Alltagssprache, Geistes- oder Sozialwissenschaften auf biologische Sachverhalte. Damit sind Termini wie Interesse, Königin, Sklaverei, Staat oder Nepotismus gemeint. Nur ein sich selbst bewusstes Subjekt kann seine Interessen gegeneinander abwägen und Handlungen daraus ableiten. Das pro forma anzuerkennen und dennoch so zu tun, als seien Interessen vorhanden und sie in ein Modell zur Erklärung biologischer Sachverhalte einzubauen wie es manche Soziobiologen (Soziobiologie) tun, ist nutzlos. Ein auf einer falschen Vorstellung aufbauendes Modell kann keine zuverlässigen Vorhersagen über die Realität machen.

Ansichten über Evolution gibt es viele. Nicht wenige widersprechen sich direkt. Demzufolge müssen einige davon falsch sein. Auch fehlerhafte Argumente haben Ursachen. Ich benenne mögliche Hintergründe und zeige Lücken in Argumentationen auf [1]. Das hat nicht jedem gefallen, ist aber für eine in sich konsistente Darstellung evolutionärer wie auch anderer naturwissenschaftlicher Phänomene unverzichtbar und würzt die Behandlung oft komplexer Fragen.

[1] Krauss V. Nicht empfehlenswert. Leserbrief zu "Das egoistische Gen". Laborjournal, 2017, 3, 58-59.


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Veiko Krauß im August 2017