Veiko Krauß | Fragen und Antworten zur Evolutionsbiologie 2015


Drei Wegweiser in der Fitnesslandschaft

Ein beliebtes Modell der Evolutionsbiologie ist die Fitnesslandschaft. Darunter versteht man ein Modell, welches einem unebenen Gelände (siehe oben) ähnelt. Die Höhe im Gelände entspricht dabei der relativen evolutionären Fitness eines Organismus in Verhältnis zu seinen Artgenossen. In den Tälern dieser Landschaft finden sich Individuen mit relativ geringer Fortpflanzungswahrscheinlichkeit, während die Gipfel von Individuen mit hoher Fortpflanzungswahrscheinlichkeit besetzt sind. Erbliche Veränderungen (Mutationen) der Nachkommen entsprechen Bewegungen in dieser Landschaft mit mehr oder weniger ausgeprägten Höhenveränderungen.

Darwin benötigte dieses Modell nicht, denn alle evolutionären Veränderungen, die er beschrieb, entsprachen genau der Richtung der Selektion. Diese Richtung der Selektion ist immer eine Fitnesserhöhung, d.h. jeder Nachkomme hat eine höhere Position im Gelände als seine Vorfahren. Es geht nur nach oben. Das bedeutet, es können nur Fitnessgipfel erreicht werden, die am Ende eines stetigen Weges nach oben liegen. Theoretisch könnten sich Organismen vielfältig nach allen Richtungen der Landschaft verbessern, da aber die meisten Richtungen auch Abstiege einschließen würden, endet die Evolution nach Darwin immer auf dem lokalen Gipfel.

Mutationen sind dagegen in alle Richtungen möglich und in bestimmten Richtungen wahrscheinlicher als in anderen [1]. Grund dafür ist der Aufbau des genetischen Materials DNA selbst bzw. die Art und Weise, wie sich die DNA-Sequenz in Merkmalen des Organismus niederschlägt. Der Weg kann hier also in alle denkbaren Richtungen, jedoch mit sehr unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit, führen.

Bestimmen nun Mutationen oder Selektion die Richtung, in welche sich die Generationen der Organismen verändern? Nun, zunächst einmal bestimmen das die Mutationen. In einen zweiten Schritt werden sich jedoch nur ein Teil der Nachkommen der ersten Generation weiter fortpflanzen können. Das sind vor allen Jene, die durch ihre Mutationen etwas an Höhe gewonnen haben bzw. zumindest nicht viel verloren haben. Die Landschaft enthält auch tiefe Gräben. Dort gibt es kein Überleben, nur den tödlichen Absturz. Ansonsten gibt die Höhe des Individuums in der Fitnesslandschaft nur die Wahrscheinlichkeit seiner weiteren Fortpflanzung an und trifft keine endgültige Aussage.

Die Organismen werden sich also in Richtung der wahrscheinlichsten Mutationen bewegen, wobei gleichzeitig ihre weitere Fortpflanzung umso wahrscheinlicher wird, je höher sie sich im Gelände befinden. Das heißt aber nicht, dass in jeder Generation nur eine bestimmte Zahl der höchsten Individuen Erfolg hat, denn da es von jeder Art nur endlich viele Organismen gibt, spielen auch Glück oder Pech eine Rolle. D.h., der weitere Weg der Organismen in der Fitnesslandschaft wird auch durch den Zufall bestimmt, den man genetische Drift nennt.

Auf diese Weise können in einer vielgipfligen Landschaft (siehe Bild) auch viele dieser Fitnessgipfel schließlich durch Organismen erreicht werden, was nur durch das ständige Zusammenwirken von Mutation, Selektion und Drift erklärbar ist. Biologische Vielfalt entsteht also nicht durch ständige Optimierung, sondern kann nur Ergebnis eines komplexeren Veränderungsprozesses sein, an deren Wurzel die unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten verschiedenster Mutationen stehen. Die Behauptung, dass Fitnesserhöhungen nur durch Selektion entstehen können, ist unsinnig, da jeder einzelne Schritt der Evolution immer durch Mutation, Selektion und Drift beeinflusst wird.

Natürliche Selektion ist also nicht der primäre schöpferische Faktor der Evolution, als den sie Darwin beschrieb. Denn Darwin tat dass nur unter zwei Bedingungen, die Variation dann erfüllen müsse: (1) Sie sei zufällig, und (2) sie sei nicht diskret, sondern kontinuierlich. Beide Bedingungen können Mutationen der DNA nicht erfüllen, da der Umfang einzelner Mutationen von Nukleotidaustauschen bis zur Verdopplung vollständiger Genome reicht (d.h. sie sind diskret) und weil diese Mutationen mit sehr unterschiedlicher, unter Anderem von der Struktur der DNA abhängiger Häufigkeit auftreten (d.h., ihr Auftreten ist nicht völlig zufällig). Darwin hat also eine in sich konsistente Hypothese aufgestellt, deren Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt sind. Erst im Zusammenwirken mit Mutation und Drift kann Selektion Schöpferkraft entfalten, welche dann allerdings dem Prozess der Evolution insgesamt zugeschrieben werden muss.

[1] Stoltzfus A, Yampolsky LY. Climbing Mount Probable: Mutation as a Cause of Nonrandomness in Evolution. J Hered, 2009 100:637-647.


Entsteht durch Sex Variation?

Nicht nur in Schulbüchern, sondern auch in manchen Lehrbüchern der Evolutionsbiologie ist die Meinung zu finden, dass sexuelle Fortpflanzung Variation produzieren würde. Diese Ansicht ist auf den ersten Blick sehr glaubhaft, tatsächlich ermöglicht der Chromosomen-Stückaustausch und die zufällige Verteilung der Chromosomen bei der Meiose sowie das Zusammentreffen zweier Gameten meist unterschiedlicher Herkunft im Allgemeinen das Entstehen eines einzigartigen Organismus. Jeder neugeborene Mensch — wegen früh einsetzenden somatischen Mutationen sogar eineiige Mehrlinge — unterscheidet sich deshalb aller Wahrscheinlichkeit nach genetisch nicht nur von allen jetzt lebenden Menschen, sondern sogar von allen Menschen, die je lebten.

Die durch sexuelle Rekombination geschaffene Variation verschwindet jedoch in der nächsten Generation genauso schnell, wie sie entstanden ist, um neuen Varianten Platz zu machen. Das bedeutet, dass die vielen einzigartigen Allel-Kombinationen für evolutionäre Prozesse keine Bedeutung haben können. Die Wichtigkeit der sexuellen Fortpflanzung liegt vielmehr in der Rekombination (Neukombination) der allein durch Mutationen geschaffenen genetischen Variation. Nur dadurch ist es in den relativ kleinen Populationen größerer Wirbeltiere überhaupt möglich, genetische Variabilität aufrechtzuerhalten.

Denn ein großer Teil auftretender Mutationen ist unter gewöhnlichen Umweltbedingungen mehr oder weniger schädlich und summiert sich, trotz der kleinen Zahl gleichzeitig auftretender vorteilhafter Mutationen, zu einer genetischen Last, welche nur dann effektiv entfernt werden kann, wenn durch das andauernde Würfelspiel der Rekombination zufällig besonders viele nachteilige oder auch mehr vorteilhafte Allele miteinander kombiniert werden. Dann können die Fitnessunterschiede auch in relativ kleinen Populationen groß genug werden, um wirksame Selektion zu erlauben. Ohne Rekombination würden alle Genome dagegen solange Mutationen sammeln, bis sie unter der Last verschiedenster leicht nachteiliger Mutationen zusammenbrechen, die allein noch nicht ausreichen, um das Überleben zu gefährden, und daher ohne Rekombination nicht loszuwerden sind. Gleichzeitig können nur durch Rekombination vorteilhafte Allele aus der Masse ihrer oft unterdurchschnittlichen Nachbarn herausgelöst und zu lebenstüchtigeren Genomen zusammengeschweißt werden.

Sex dient also nicht der Erzeugung neuer Variation, sondern der wirksameren Trennung der nachteiligen von den vorteilhaften Allelen [1], was Selektion allein nur in den gewaltigen Populationen vieler Bakterien schafft, wo im evolutionären Wettbewerb tatsächlich Gruppen genetisch identischer Organismen gegeneinander antreten, die sich mitunter nur durch eine einzige Mutation unterscheiden.

[1] Jiang X, Hu S, Xu Q, Chang Y, and Tao S. Relative effects of segregation and recombination on the evolution of sex in finite diploid populations. Heredity, 2013 111:505-512.


Wie wirken Mutation, Drift und Selektion konkret bei der Evolution neuer Merkmale zusammen?

Der Beitrag Drei Wegweiser in der Fitnesslandschaft blieb theoretisch und beruht auf einem abstrakten Modell. Viel besser sind gute Beispiele. Duplikationen sind häufige Mutationen und führten zur Entstehung beinahe jedes heute existierenden Gens. Dabei wurden oft große Abschnitte der DNA eines Chromosoms [1] oder ganze Genome dupliziert. Letzteres geschah z.B. während der Naturgeschichte der Wirbeltiere und Blütenpflanzen jeweils mehrfach.

Natürlich kann nur dupliziert werden, was wenigstens einmal vorhanden ist. Nur die Auswahl dessen, was dupliziert wird, scheint zufällig. Jedoch ist selbst dies nicht ganz richtig: Bereits mehrfach hintereinander im Genom angeordnete DNA- Sequenzen sowie springende Gene sind stark bevorzugte Ansatzpunkte einer Duplikation [1]. Eine solche Mutation ist also eine höchst spezifische, in Hinsicht auf das Ausgangsmaterial wählerische Veränderung des Genoms. Je größer zudem der duplizierte Abschnitt des Genoms ist, umso einzigartiger ist auch die genomische Veränderung selbst. Duplikationen gehören daher zu jenen sprunghaften, wesentlichen und dennoch oft lebensfähigen Mutationsereignissen, die laut klassisch darwinistischer Vorstellung keine Rolle in der Evolution spielen sollten.

Ein verdoppeltes Gen ist phänotypisch meist unauffällig. Es entstehen mehr Genprodukte (typischerweise Proteine) als zuvor. Die Mehrproduktion ist überflüssig, was dazu führt, das dieselbe stabilisierende Selektion nun auf beide Genkopien einwirkt und sich deshalb bezogen auf eine Kopie abschwächt. In der Folge sammeln sich kleine, meist nur geringfügig nachteilige Mutationen in beiden Kopien des Gens an. Mitunter ereignet sich auch eine größere Folgemutation, die eine Sequenz des Gens völlig inaktiviert. Das alles ist nicht tragisch. Das Genom enthielt ja zwei Kopien nebeneinander, und so wird nur der Urzustand wieder hergestellt. Dieser Vorgang der zufälligen Auswahl einer genetischen Variante aus mehreren nicht oder zu schwach gegeneinander selektierten Varianten wird genetische Drift genannt.

Interessanter wird es, wenn sich durch solche Mutationen die regulativen Abschnitte vor den Genen ändern. Dort gibt es zahlreiche kleine DNA-Sequenzen, an denen Proteine binden, welche bewirken, dass Gene in vielen verschiedenen Zelltypen von Tieren und Pflanzen aktiv sind. Durch Mutationen können Bindestellen ausfallen. Damit fällt auch die Expression der entsprechenden Genkopie in einzelnen Zelltypen aus. Das ist wiederum nicht wichtig, wenn nach wie vor noch wenigstens eine Kopie in jeder Zelle aktiv ist. Sollte es aber jetzt jeweils mindestens einen Zelltyp geben, der deshalb auf die Aktivität der Kopie 1 und einen anderen, der nun auf die Kopie 2 angewiesen ist, so hat sich durch Mutation und Drift etwas Entscheidendes ereignet: Beide Genkopien sind jetzt lebenswichtig, obwohl beide dasselbe herstellen. Es wird dann von einer Subfunktionalisierung [2] gesprochen.

Wir haben hunderte solcher funktionell etwa gleicher, jedoch jeweils in unterschiedlichen Zelltypen aktiven Gengeschwister in unseren Genom. Sie sind auf die eben beschriebene Weise entstanden und durch ihre einander ergänzende Aktivität beide notwendig. Sie existieren teilweise schon seit hunderten Millionen Jahren so getrennt voneinander, gebildet durch Mutation und Drift, und erhalten durch stabilisierende Selektion. Mutationen, die solche Subfunktionalisierungen wieder rückgängig machen würden, sind aufgrund ihrer sehr spezifischen Gestalt praktisch unmöglich, und ein wesentlicher Selektionsvorteil ist von einer solchen Wiederverschmelzung auch nicht zu erwarten, also ist diese Situation evolutionär stabil und häufig.

Evolution hört jedoch niemals auf. Es kann zu einer Neofunktionalisierung kommen, d.h. eines der duplizierten Gene mutiert im Leseraster des Proteins, so dass sich die Aktivität des Proteins durch eine veränderte Aminosäure-Zusammensetzung modifiziert. Wenn diese neue Mutation positiv selektiert werden sollte, d.h. wenn die neue Genfunktion dem Organismus einen Vorteil bringt, kann sie sich schnell durchsetzen. Solche Neofunktionalisierungen von Genduplikationen sind erwiesenermaßen verantwortlich z.B. für die Evolution der mehr als 1000 verschiedenen Geruchsrezeptor-Gene der Säugetiere ([3]) und führten auch zur Entstehung verschiedener Fotorezeptor-Gene (durch Verschiebung ihres jeweils optimalen Wellenlängenbereichs, wodurch jetzt drei unterschiedliche Fotorezeptoren unser Farbsehen ermöglichen [4]). Da jedoch auch sehr viele andere Gene durch ihre Ähnlichkeit und Lage zueinander auf ihren wahrscheinlichen Ursprung durch Duplikation früherer Gene und darauffolgende Neofunktionalisierung hinweisen, ist dieser Prozess der Genentstehung offensichtlich nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

Duplikation, Subfunktionalisierung und Neofunktionalisierung von Genen sind nur durch ein Zusammenwirken von Mutation, Drift und Selektion erklärbar. Mutation bildete eine hochkomplexe, aber dennoch hinreichend wahrscheinliche neue Struktur (Genverdopplung). Genetische Drift erhielt diese neue Genkopie trotz ihrer zeitweiligen Überflüssigkeit lange genug, damit neue Mutationen sie durch Verlust bzw. Gewinn von Funktionen (Subfunktionalisierung bzw. Neofunktionalisierung) für den Organismus unverzichtbar machten. In diesen Moment übernahm Selektion ihre Erhaltung und die Durchsetzung von die neue Funktion verbessernden Mutationen.

[1] Krauß, V. Die Struktur des Zufalls als Motor der Veränderung. In: Gene, Zufall, Selektion. Populäre Vorstellungen zur Evolution und der Stand des Wissens.

[2] Force A, Lynch M, Pickett FB, A. Amores A, Yan YL, Postlethwait JH. Preservation of duplicate genes by complementary, degenerative mutations. Genetics 1999, 151:1531-1545.

[3] Niimura Y. Olfactory receptor multigene family in vertebrates: from the viewpoint of evolutionary genomics. Curr Genomics 2012, 13:103-114.

[4] Surridge AK, Osorio D, Mundy NI. Evolution and selection of trichromatic vision in primates. Trends Ecol Evol 2003, 18:198-205.


Ist Evolution stets ein langsamer Prozess?

Nein. Das Modell der Evolution als Aneinanderreihung vieler, fast unmerklich kleiner Schritte der Veränderung geht wesentlich auf Darwin zurück, der davon überzeugt war, dass Lebewesen sich nur allmählich und nicht sprunghaft verändern können [1]. Diese Überzeugung Darwins ist gut nachzuvollziehen, da er gegen die unvermittelte Schöpfung von Arten durch göttliche Intervention argumentierte und auch nur einen Evolutionsfaktor, die Selektion, zutreffend beschreiben konnte. Seine Ansicht hat sich jedoch in mindestens dreifacher Hinsicht als falsch herausgestellt.

Zunächst wurde bereits bemerkt, dass Mutationen als elementare Schritte der Evolution unterschiedlich große Auswirkungen auf das Genom (den Genotyp) als auch auf die Eigenschaften (den Phänotyp) der Organismen haben können. Zweitens verändern sich Arten mit sexueller Fortpflanzung unregelmäßig schnell. Immer, wenn sich zwei Arten während der Evolution voneinander trennen, kommt es zu einer deutlich schnelleren Veränderung mindestens einer der beteiligten Arten, weil der Genfluss zwischen diesen beiden neuentstandenen Formen endet und aus einer Population zwei kleinere Populationen entstanden sind, welche sich nunmehr durch divergente Selektion an verschiedene ökologische Nischen anpassen können. Eine so veränderte Anpassungsrichtung kann sich auf geografische Trennung der Verbreitungsgebiete beziehen (allopatrische Artbildung) oder auf verschiedene Lebensweisen in demselben Verbreitungsgebiet (sympatrische Artbildung). Wenn sich dabei (z.B. durch Auswanderung weniger Organismen auf eine Verbreitungsinsel mit praktisch vollständiger Isolation) eine Art mit stark verringerter genetischer Vielfalt und Organismenzahl herausbildet, spielt genetische Drift eine wichtigere Rolle bei der weiteren Evolution dieser Art und wird die Geschwindigkeit der Veränderungen im Vergleich zur Ausgangsart ebenfalls erhöhen. Die Paläontologen Gould und Eldridge [2] prägten für diese zweite Form der diskontinuierlichen Veränderung der Lebewesen den Begriff des Punktualismus ("punctuated equilibria").

Drittens zeigt uns die Entwicklungsgeschichte der Erde deutlich, dass viele artenreiche Lebensgemeinschaften, verursacht durch ökologische Katastrophen wie z.B. Vulkanausbrüche und Meteoriteneinschläge mit globalen Folgen, in geologisch kurzen Zeiträumen verschwanden, um in etwas längeren Zeiträumen in mehr oder wenig veränderter Zusammensetzung wieder zu entstehen. Auf solche schnellen Veränderungsprozesse folgten längere Phasen deutlich geringerer Veränderungen. Dieses diskontinuierliche Muster der Evolution ermöglicht es, mittels des Vorkommens bestimmter Fossilformen (Leitfossilien) das geologische Alter von Gesteinschichten relativ zu bestimmen.

Diese dreifache Diskontinuität der Evolution wird auch heute nicht selten bestritten oder in ihrer Bedeutung heruntergespielt [3]. Sachliche Argumente gegen die so verursachten, sehr unterschiedlichen Evolutionsgeschwindigkeiten sind mir jedoch nicht bekannt. Ein Motiv der Verfechter einer im Wesentlichen allmählich (graduell) voranschreitenden Evolution kann in einer Überschätzung der Bedeutung der Selektion liegen, da das auslösende Moment aller drei diskontinuierlichen Prozesse (mit Ausnahme der sympatrischen Artbildung) nicht die Selektion ist, sondern Mutationen, Hemmung des Genflusses durch geografische Faktoren bzw. ökologische Katastrophen. Zudem scheint es möglich, dass ein völlig normaler Vorgang wie die Korrektur der Ansicht eines verdienstvollen Wissenschaftlers im Falle Darwins als Angriff auf die Evolutionstheorie an sich gesehen wird. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, denn die Diversität evolutionär bedeutsamer Mutationen ist unter Fachleuten der molekularen Evolution ebenso unumstritten [4] wie der Punktualismus [5] und die Abfolge ökologischer Katastrophen [6] unter Paläontologen.

[1] Darwin C. The Origin of Species by means of Natural Selection. Sixth London Edition, with all Additions and Corrections. 1872, p.466.

[2] Eldredge N, Gould SJ. Punctuated equilibria: an alternative to phyletic gradualism. In Models in Paleobiology. Ed. by TJM Schopf. San Francisco: Freeman Cooper. pp. 82-115.

[3] Futuyma DJ. Evolution. Das Original mit Übersetzungshilfen, 2007. Rates of Evolution, Gradualism and saltation, pp.502-508.

[4] Bowers JE, Chapman BA, Rong J, Paterson AH. Unravelling angiosperm genome evolution by phylogenetic analysis of chromosomal duplication events. Nature 2003, 422:433-438.

[5] Prothero D. Stephen Jay Gould: Did He Bring Paleontology to the "High Table"? Philosophy and Theory in Biology 2009 1:e001.

[6] Jablonski D. Lessons from the past: Evolutionary impacts of mass extinctions. Proc Natl Acad Sci USA 2001 98:5393-5398.


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Veiko Krauß im August 2017